„Im Advent kennt der Schlager keine Gnade“
Ein Artikel von Dr. Rainer Moritz
erschienen in der Neuen Züricher Zeitung Deutschland am 20.12.2021.
Seit vielen Jahren haben wir uns daran gewöhnt, dass man uns mit weihnachtlich eingefärbten Liedern berieselt, kaum brennt die erste Adventskerze. So wie uns schon ab Mitte Oktober in den Supermärkten Lebkuchenherzen aufs Fest einstimmen, ist es für die Musikredaktoren vieler Radiostationen offenkundig eine Selbstverständlichkeit, unsere Ohren Stunde für Stunde mit Weihnachtsmelodien zu malträtieren.
Deutschsprachiger Gesang zieht dabei den Kürzeren; zu viel des Guten wäre es wohl, Dutzende von Malen am Tag «O Tannenbaum» oder «Ihr Kinderlein kommet» zu spielen, selbst wenn es noch so stimmungsvoll Nana Mouskouri oder Howard Carpendale singen würden. Stattdessen gibt es kein Entweichen vor «Dreaming of a white Christmas», «Jingle Bells», «Driving home for Christmas» oder «Last Christmas», das ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger ob seiner Doppelbedeutung übrigens zwiespältig aufnehmen. Auch Rudolph, dem rotnasigen Rentier, ist nicht zu entkommen, und wenn wir das ganze Jahr über kaum noch einen Song von José Feliciano hören, so naht im Dezember Abhilfe, dank der Endlosschleife von «Feliz Navidad».
Froh und munter wird man dadurch nicht. Das passive Konsumieren von Weihnachtsgesang hat außerdem dazu geführt, dass eine sehr alte Tradition, das Singen unter der Nordmanntanne, verloren zu gehen droht. Wir lassen singen, so wie man uns die Gans fertig gebraten nach Hause liefert.
Früher – diese kulturpessimistische Bemerkung muss erlaubt sein – war das anders und besser. Früher gehörte das weihnachtliche Singen und Musizieren selbstverständlich dazu, wie im Schwabenland Saitenwürstle zum Kartoffelsalat. Lassen Sie mich das an meiner eigenen Kindheit veranschaulichen, da kenne ich mich aus. Unsere Weihnachtsrituale waren unantastbar, niemand hätte es gewagt, daran zu rütteln. Allenfalls Lametta kam im Lauf der Jahre ein wenig aus der Mode. Und wenn wir Kinder nach dem Kirchgang der Bescherung entgegenfieberten, wussten die Eltern ganz genau, wie die Spannung ins Unerträgliche zu steigern war.
Schauderhafte Gesänge
Bis wir die Geschenke endlich auspacken durften, galt es, absichtsvoll eingebaute Verzögerungen hinzunehmen. Meine Mutter legte zur Einstimmung eine Platte mit bemühtem Weihnachtsgesang – Hermann Prey oder Dietrich Fischer-Dieskau – auf, quasi als Einstimmung für unseren Auftritt. Fünf, sechs Lieder waren zu singen, in mehreren Strophen.
Während mein Vater gut bei Stimme war, boten mein Bruder und ich furchteinflössende Interpretationen von «Leise rieselt der Schnee» und «O du fröhliche». Meine Schwester entzog sich irgendwann den Sangespflichten und zeigte ihre Fertigkeiten an der Blockflöte und Klarinette. Besonders schön war das alles nicht, aber ohne diese amateurhaften Einlagen wäre Weihnachten kein richtiges Weihnachten gewesen.
Gibt es das heute noch? In wie vielen Familien wird an Heiligabend kraftvoll gesungen? Ohne über empirische Daten zu verfügen, ahne ich, dass das gemeinsame Schmettern am Gabentisch stark rückläufig ist. Wie die «Hausmusik» überhaupt – ein Wort, das vormals noch keinen faden Beigeschmack besaß. Immer wenn ich an Hausmusik denke, sehe ich die sehr junge Ursula von der Leyen vor mir – in einem Filmchen, das sie unbeschwert im Kreis ihrer trällernden Geschwister zeigt.
Über dieser Familienaufstellung thronte Uschis Vater, der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht, demonstrierte strahlend Familiensinn und gab auf der Gitarre den Ton an. Irgendwie macht mir diese Szene bis heute Angst, dieses Zurschaustellen einer heilen singenden Welt, wenngleich man anführen könnte, dass zwischen politischem Aufstieg und familiärer Sangespflege vielleicht ein Zusammenhang besteht.
Von Heintje bis Roy Black
Warum herrscht heutzutage vielerorts eine so große Zurückhaltung beim Weihnachtsgesang? Die Musikindustrie trägt ihren Teil dazu bei, da sie seit Jahrzehnten keinerlei Hemmung zeigt, wenn es darum geht, ihre Zugpferde zum Absingen von Weihnachtlichem zu zwingen. Kaum ein Operettensänger, kaum ein Schlagerstar hat je der Versuchung widerstanden, das Fest mit süßlichen Interpretationen von «Stille Nacht» oder «Morgen, Kinder, wird’s was geben» zu verzuckern.
Wollte man eine Hitliste der schlimmsten Verunglimpfungen dieser Art aufstellen, gäbe es viel zu bedenken. War Roy Blacks «Weihnachten bin ich zu Haus» am unerträglichsten oder doch «Weihnachten mit Heintje»? Wie steht es mit Freddys «Weihnachten auf hoher See», Wolfgang Petrys «Freudige Weihnachten» und «Weihnachten mit Bernd Clüver»? Wie nachsichtig sollte man mit Johnny Cashs «Classic Christmas Album» und Peter Alexanders «Wunderschöne Weihnachtszeit» umgehen?
Auch Andrea Berg («Du hast mich tausendmal belogen») ist eine Zumutung, wenn sie sich mit dünner Stimme besinnlich gibt. Für die Hartgesottenen gibt es seit ein paar Jahren Helene Fischers Weihnachtsalbum, bei dem das Royal Philharmonic Orchestra assistiert und das mit seinen 35 Liedern viel Hörtoleranz verlangt.
Selbst der Sozialismus kannte keine Rücksicht. Wer in der DDR aufwuchs, wurde jahrelang auf vergleichbare Weise gemartert. «Weihnachten in Familie» hieß eine der weitverbreiteten Platten, auf der der Ostschlagerstar Frank Schöbel mit seiner damaligen Gefährtin Aurora Lacasa und den liebreizenden Kindern Odette und Dominique sang. Ein DDR-Klassiker war das, der die vom «Neuen Deutschland» schon 1951 formulierte Mahnung, die «deutschen Weihnachtslieder» nicht zu «amerikanischen Schlagern» zu entwürdigen, beherzigte. Familie Schöbel/Lacasa packte, untermalt vom Kinderchor der Musikschule Berlin-Lichtenberg, auf altmodische Weise alles an, was im Sozialismus an Weihnachtlichem toleriert wurde. Das klang sogar besser als bei Andrea Berg.
Selbst Abba enttäuscht
Vor gut fünfzig Jahren, als die Inflation der prominenten Weihnachtsliedaufnahmen nicht abzusehen war, wollte man der Sache sogar Gutes abgewinnen. Der Volkskundler Hermann Fischer schrieb damals in seiner Studie «Volkslied – Schlager – Evergreen. Studien über das lebendige Singen aufgrund von Untersuchungen im Kreis Reutlingen» voller Optimismus: «Vielleicht regt das Abhören derartiger Schallplatten eher zum aktiven Mitsingen an, dergestalt, dass dadurch eine Atmosphäre und eine festliche Stimmung geschaffen wird, welche die Hörer zum aktiven Mitsingen veranlasst.» Das Gegenteil ist eingetreten. Semino Rossi, Julio Iglesias, The Kelly Family und Co. ständig und überall verfügbar zu haben, hat zu einer massiven Singblockade geführt. Es ist nicht abzusehen, mit welcher Therapie ihr beizukommen wäre.
Auch in den letzten Wochen galt es viel auszuhalten. Der Gedanke, einen solchen Longseller wie «Last Christmas», der alljährlich die Tantièmen sprudeln lässt, rauszuhauen, lässt Musikproduzenten keine Ruhe und verleitet selbst die berühmtesten Interpreten dazu, ihre weihnachtliche Ader zu entdecken. Ed Sheeran und Elton John zum Beispiel traten jüngst mit «Merry Christmas» als Duo an, das zwar kritische Untertöne – «I know there’s been pain this year» – anschlägt, doch am Ende auf die weltumspannende Kraft weihnachtlicher Liebe setzt.
Sogar die Combacksuperstartruppe Abba kann der Versuchung nicht widerstehen und will von den weihnachtlichen Töpfen etwas abhaben. Ihr brandneues Lied «Little Things» ist, obwohl am Ende sogar herzallerliebste Kinderstimmen zu hören sind, eine Enttäuschung. Das Lob der «kleinen Dinge» – das klingt, als würde meine Mutter sprechen –, die so viel mehr Freude als große Geschenke bereiten, tönt abgedroschen, und auch Verse wie «Oh, what joy Santa brings. Thanks, old friend, for packing Christmas stockings full of nice little things» bringen mich zum Gähnen. Von den alten Schweden hätte ich mehr erwartet.
Ich selber werde auch in diesem Jahr standhaft darauf verzichten, vor der Bescherung «Alle Jahre wieder» vorzutragen. Um alle zu schonen, werde ich mir erst zu später Stunde «Fröhliche Weihnachten wünscht Anneliese Rothenberger» oder Vico Torrianis «Mutters Weihnachtslied» anhören. Und danach? Zum Glück habe ich immer schweren Rotwein und kräftige Zigarillos zu Hause.
Frohe Weihnachten und die besten Wünsche für das NEUE JAHR.
Herzlichst Ihre Natascha
Lebenslauf von Dr. Rainer Moritz (aus Wikipedia):
Nach dem Abitur studierte er Germanistik, Philosophie und Romanistik. 1988 promovierte er mit einer literaturwissenschaftlichen Arbeit über Hermann Lenz. Von 1989 – 2005 arbeitete er in mehreren Verlagen. Zuerst als Lektor beim Tübinger Franke Verlag, als Leiter der Philologischen Abteilung beim Berliner Erich Schmidt Verlag, dann als Cheflektor beim Verlag Reclam Leipzig und dann als Programm-geschäftsführer beim Verlag Hoffmann und Campe.
Seit 2005 leitet er das Literaturhaus Hamburg. Er ist Vizepräsident der Marcel Proust Gesellschaft, Mitglied des PEN.Zentrums Deutschland, sowie der Deutschen Akademie für Fußball-Kultur. Er ist Literaturkritiker für mehrere Tageszeitungen und Rundfunksender und Autor zahlreicher Bücher. Beim Radiosender Bremen Zwei von Radio Bremen ist Moritz einmal wöchentlich am Freitagmorgen als Kolumnist unter dem Titel Die Welt mit Moritz zu hören. Im Gespräch mit dem Moderator analysiert er dort humorvoll kuriose Meldungen aus der Nachrichtenwelt oder philosophiert über das aktuelle Zeitgeschehen. 2020 gehörte er der Jury des Bayerischen Buchpreises an.